Fachbeitrag · 8. Februar 2020

Verschläft der Mittelstand die Digitalisierung?

Zwischen abwarten, zuschauen, mitmachen und Aktionismus.

Vielleicht geht es Ihnen auch so oder ähnlich: Wir nehmen in den Unternehmen sehr unterschiedliche Interpretationen der aktuellen konjunkturellen Situation wahr. Das reicht von gesunder Vorsicht, über ein entspanntes „weiter so“, bis hin zu einem nervösen „jetzt müssen wir aber schnell an massive Anpassungen und Veränderungen ran“. Wir begegnen auch Meinungen, die von einer wohltuenden Abkühlung sprechen – dieses „wohltuend“ machte uns neugierig…

Die Antwort mancher Top-Entscheider ist ebenso einfach wie einleuchtend: „Wir nutzen diese Phase als Chance, um mal aufzuräumen, Ineffizienzen an‘s Tageslicht zu bringen, defizitäre Leistungsbereiche auszumisten oder kümmern uns um unseren Weg in die Digitalisierung“.

Nehmen wir beispielsweise Amazon – dass dieser Online-Gigant zusammen mit Aldi und Ikea zu den stärksten und größten Retail Brands in Deutschland gehört, dürfte uns allen bereits bekannt sein.

Dass Amazon seit mittlerweile über zwei Jahren auch einen immer stärkeren Fokus auf das B2B-Geschäft wirft ist vielen bekannt, mit welcher Macht und Strategie der Online-Händler das Thema ausrollt, dürfte den einen oder anderen jedoch unruhig machen. Mittlerweile blickt Amazon Business weltweit auf einen Umsatz von etwa 10 Milliarden Dollar, 22 der 30 Dax-Unternehmen sind dort Kunden. Stand heute ist die Rede von mehreren Hunderttausend B2B-Kunden in Deutschland. Amazon hat es dabei verstanden, sich schnell auf die Bedürfnisse dieser Kunden einzustellen. Preisvorteile für kleine und große Unternehmen, komplexe Bestell-Prozesse, die vereinfacht wurden, intelligente Logistik-Vereinbarungen.

Was aber könnte es darüber hinaus attraktiv machen, mit Amazon nicht als Kunden, sondern als Lieferant zu arbeiten?

Zunächst haben Sie die Wahl zwischen Amazon Seller und Amazon Vendor, diese Frage sollten Sie sich als mittelständischer Hersteller auf den ersten Blick nicht lange stellen. Aber die Vor und Nachteile sind sehr wohl zu betrachten:

Als sogenannter Amazon Seller haben Sie die Kontrolle über Preis und Inventar, den direkten Kontakt zum Endkunden, wenig Verhandlungen mit Amazon und eine geringe Abhängigkeit vom Online-Giganten. Der Nachteil: Der Versand über Amazon kann teuer werden und Sie haben weniger werblichen und kommunikativen Einfluss auf die Beschreibungen Ihrer Produkte.

Der Status als Vendor lässt deutlich mehr Zugriff auf Werbeformat und damit Umsatzgenerierung zu. Außerdem übernimmt Amazon die komplette Logistik und das Retouren-Management. Eher ungünstig: Sie haben keine Kontrolle über Preise und Sonderaktionen, die Abhängigkeit ist hoch, Vorsicht bei den Zahlungszielen ist geboten, der direkte Kundenkontakt fällt weg.

Was aber praktische Erfahrungen zeigen: Amazon ist in manchen Punkten verhandlungsbereiter, als man erwartet.

Das hängt vermutlich mit dem dynamischen Portfolio-Management zusammen. Sobald klar ist, dass eine Produkt-Palette optimal abgerundet ist, steigt die Gesprächs- und Verhandlungsbereitschaft.

Zieht man nun die mittelständische B2B-Brille auf, dann macht folgende Essenz Sinn:

  • Amazon nur als Feindbild zu betrachten, könnte gefährlich und unsinnig sein.
  • Auch im Aufbau von Bekanntheitsgrad und Neuprodukteinführungen kann eine Zusammenarbeit hilfreich sein
  • Am Ende müssen Amazon und weitere Online-Händler im Rahmen von aktuellen Verkaufs- und Vertriebsstrategien immer betrachtet werden
  • Ohne fundierte Chancen- und Risiko-Analyse wird es schwierig
  • Vor intuitiven Entscheidungen kann man in diesem Zusammenhang nur warnen, die Folgen könnten ausgesprochen kritisch sein

Verfasst von:

Norbert Wölbl
Partner, Managementberater Strategie & Markt, Key Note Speaker
Liebich & Partner

Norbert Wölbl ist Experte für marktorientierte Unternehmenssteuerung – ein zentraler Verantwortungs- und Erfolgsfaktor auf Top-Ebene. Entscheidern in Geschäftsführung, Marketing und Vertrieb verhilft er in Change- …

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